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Liebe Mitglieder und Interessierte,
in der kommenden Woche jährt sich zum dreißigsten Mal das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Zwischen dem 22. und 26. August 1992 wütete ein Mob aus Rechtsextremisten und „normalen Bürgern“ vor dem „Sonnenblumenhaus“ gegen Sinti und Roma sowie vietnamesische Vertragsarbeiter. Es wurden Brandsätze geworfen und nur durch Zufall gab es keine Toten, sondern Verletzte. Bis zu dreitausend applaudierende Zuschauer, die aus ganz Deutschland angereist waren, feuerten die Angreifer an und schrien rassistische Parolen. Im Verlaufe der Woche wurden sogar Würstchenbudenaufgebaut, so dass das Pogrom zu einem Social-Event der schrecklichsten Art mutierte.
Antisemitische und rassistische Übergriffe gibt es seit Bestehen der Bundesrepublik. Mit der Wiedervereinigung 1990 kam es zu einer explosionsartigen Ausbreitung von militanten Gewalttaten, jedoch gibt es einige Vorkommnisse in Rostock-Lichtenhagen, die dieses Verbrechen zu einem besonderen Einschnitt markieren. Der offene Zusammenschluss zwischen militanten Rechtsextremisten und sogenannten “normalen Bürgern”, die mit ihrem aggressiven Vorgehen die dem Geschehen teilnahmslos zuschauende Polizei zurückgedrängten bzw. sogar vertrieben, war eine katastrophale Kapitulation des Rechtsstaats. Der Platz vor dem Sonnenblumenhaus wurde über längere Zeit zu einem rechtsfreien Raum degradiert. Die offene Solidarisierung von „normalen Bürgern“ und Rechtsextremisten zeigte zudem schon damals auf, dass eine sich auf Extremismus beschränkende Perspektive an den Ursachen von Rassismus und ultra-rechter Gesinnung vorbei geht. Beide Phänomene sind bis weit in die “Mitte der Gesellschaft” verankert, wie auch mittlerweile an den Erfolgen der Partei AfD festgemacht werden kann.
Ein weiterer Skandal, der in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, besteht darin, dass die Opfer im Nachgang keine Entschädigung oder Entschuldigung erhielten, sondern stattdessen nicht gehört und in den meisten Fällen sogar abgeschoben wurden. Die Täter wiederum erhielten keine oder nur sehr geringe Strafen, die zumeist erst nach mehreren Jahren ausgesprochen wurden. Für viele Opfer hat sich dies wie eine Verhöhnung angefühlt, und die Täter wiederum sahen dieses Verhalten der staatlichen Exekutive und Judikative als eine Bestätigung und Legitimierung ihres Handelns an. Viele äußerten sich auch im Nachhinein dahingehend, dass sie sich als Vertreter des „gesunden Volksvertreterwillens“ verstehen. Dass es in den Folgejahren zu einem massiven Erstarken der extremen Rechten und einem grassierenden Rassismus und Antisemitismus gekommen ist, der seit 1990 zu mehr als 200 Todesopfern geführt hat, ist auch ein Ergebnis des staatlichen und zivilgesellschaftlichen Versagens, das rund um das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen begonnen hatte. Deshalb ist und bleibt es für unsere Christlich-Jüdische Gesellschaft nach wie vor die dringendste gesellschaftspolitische Aufgabe, strukturelle historische Phänomene, die Rassismus und Antisemitismus bis in die Gegenwart befördern, aufzudecken, in der Öffentlichkeit zu brandmarken und politisch zu bekämpfen.
Von besonderer Aktualität steht für eine Verharmlosung und ein Wegducken vor Verantwortung die Leitung der documenta in Kassel. Hier geht es zwar nicht um direkte Gewalt, aber um einen brutalen, an Nazi-Propaganda erinnernden Antisemitismus, der jedoch erfreulicherweise von den meisten medienkritisch aufgegriffen und verurteilt wurde. Die einzigen, die sich der Verantwortung entzogen und immer noch entziehen, sind die Manager des Ganzen. Wenn ich mich auch im Ergebnis gegen eine Schließung der Kunstschau ausgesprochen habe, so ist doch nicht zu verkennen, dass die politische Führung in Berlin erst verharmlost und danach versagt hat. Und auch der Bürgermeister der Stadt Kassel hatte mehr Angst um „seine“ Schau als ein Interesse an umfassender Aufklärung. „Hier ist etwas faul im Staate Dänemark“, will man – frei nach Shakespeare rufen.
Und wegen der Aktualität ein Hinweis zum feigen Mordversuch an Salman Rushdie: Günter Wallraff, unser Träger des Giesberts-Lewin-Preises hat im Kölner Stadtanzeiger vom 15.08.2022 ein bemerkenswertes und unseren Intentionen voll entsprechendes Interview gegeben. Sehr lesenswert!
Ein zivilgesellschaftlicher Akteur in Köln, der sich auch in den 1990er Jahren schon gegen jede Form des Antisemitismus und Rassismus gestellt hat, ist der Verein EL-DE-Haus, der mit seinem vielseitigen Engagement maßgeblich die demokratische Stadtkultur prägt und geprägt hat und den wir daher in diesem Jahr mit dem Giesberts-Lewin-Preis auszeichnen. Die Verleihung wird erstmalig bereits im September durchgeführt, da das Käthe Kollwitz Museum im Herbst und Winter renoviert wird. Zugleich hoffen wir auch, dass die Veranstaltung zu diesem Zeitpunkt mit möglichst wenigen Gesundheitsrisiken und Covid-19-Auflagen durchgeführt werden kann. Wir laden Sie herzlich ein, mit Ihrem Besuch einen würdigen Rahmen für die Preisträger zu gewährleisten. Die Einladung hierzu finden Sie auf den folgenden Seiten.