Rede von Prof. Dr. Jürgen Wilhelm am 9. November 2017 in der Synagoge Köln anlässlich des 79. Jahrestages der Pogromnacht von 1938
Unsere heutige Veranstaltung verstehe ich nicht nur als Erinnerung an das Fanal zum systematischen Massenmord an die Juden Europas, sondern immer auch als Mahnung an eine aufmerksame und lebendige Erinnerungskultur, die gegenwärtige problematische Entwicklungen beobachtet. Und leider sind diese Entwicklungen in jedem Jahr und im vergangenen insbesondere von systematischer, ja geradezu institutioneller Veränderung negativ gekennzeichnet.
Es gibt in den letzten Jahren dramatische politische Beben zu verzeichnen, in deren Fahrtwind Rassismus und Antisemitismus eine widerwärtige Konjunktur erleben. Wir haben das an dieser Stelle und aus diesem Anlass seit vielen Jahren gesagt und dafür konkrete Beispiele genannt. Aber wir standen in dieser Synagoge mit solchen Hinweisen, Mahnungen und Appellen ziemlich allein. Vor einigen Jahren wurden gar Stimmen laut, die meinten, man solle die Gedenkfeier abschaffen, denn die rednerischen Rituale seien angesichts der erreichten demokratischen Festigkeit zwar gut gemeint, aber im Grunde überflüssig.
Nun, da rechte Vereinfacher, Antisemiten, Neonazis, Religionshasser mit den demokratischen Weihen im Bundestag sitzen, haben es vielleicht schon ein wenig mehr Menschen bemerkt, welchen Typen mit teilweise ungeheuerlichen Äußerungen dort eine Plattform geboten wird. Und natürlich spielen die Medien fleißig mit. Sie springen über jedes hingehaltene Stöckchen, das sie dann flugs mit der Vokabel Tabubruch belegen, aber ellenlang darüber berichten. Und genau das ist das Ziel, ja es ist die Strategie der AfD. Und sie funktioniert, die Rechnung geht auf. Das Schema ist simpel: Man begeht diesen sog. Tabubruch ganz gezielt; darüber wird groß berichtet, natürlich mit der notwendigen Empörung. Dann rudert man ein wenig zurück, relativiert, sei falsch zitiert worden, …aus dem Zusammenhang gerissen… usw.. Das Übliche halt. Danach wird der Rechtsradikale in eine oder mehrere Talkshows eingeladen, wo er erneut die Möglichkeit erhält, sein Zeug ausführlich zu begründen und zu legitimieren. Das Ganze zieht sich mindestens eine Woche lang hin, und anschließend gilt das Gesagte als Teil des politisch-demokratischen und damit in der veröffentlichten Meinung akzeptierten Diskurses. Der Intendant des WDR, den ich in einem Schreiben auf diese Mechanismen aufmerksam gemacht und darum gebeten habe, auf diese offensichtlichen Provokationen nicht hereinzufallen, hat mir geantwortet, dass die Einladungen in die Talkshows dem öffentlich-rechtlichen Auftrag zur ausgewogenen Berichterstattung entsprächen.
Und es geht weiter: im Kölner Stadt-Anzeiger erhält ein ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW häufig Gelegenheit zu großformatigen Artikeln. Er hat nun gegen die mehrheitliche Entscheidung des Bundestages gewettert, einen Islamhasser der AfD zum Vizepräsidenten zu wählen. Dies tat er natürlich nicht, weil er dessen Meinung teile, sondern weil es den demokratischen Gepflogenheiten entspräche.
Ja, haben dieser und viele andere denn nichts aus der Geschichte gelernt? Ein Vizepräsident des Bundestages mag politisch nicht wichtig sein, aber er ist ein Repräsentant des Parlaments. Will man denn dort jemanden sitzen haben, der gegen die Religionsfreiheit wettert, der Naziparolen in seinen Reihen unwidersprochen lässt? Was sind denn „Gepflogenheiten“ wert, wenn sie von denjenigen, denen sie zugutekommen, lediglich als willkommene Plattform zur Verbreitung ihrer Hassthesen genutzt werden? Wie naiv ist diese Republik? Was muss denn noch passieren, damit man endlich die Riegel vorschiebt? Diese furchtbaren „Objektivierer“ spielen mit ihrem formalen Verständnis bewusst oder unbewusst in die Hände der Rassisten, die sich darüber schon gar nicht mehr nur klammheimlich freuen.
Und einige aus den etablierten Parteien gehen schon weiter: so wirbt der sächsische Bürgermeister der CDU Freiberg offen für eine Zusammenarbeit mit der AfD: Zitat: „Wenn sich die AfD stabili-siert und zu einer Politik kommt, die dem Bürger auch wirklich Wege zeigt, wie es besser werden kann, dann halte ich eine Koalition mit der AfD für möglich.“
So weit sind wir schon wieder.
Die Wahl in Österreich und die Ergebnisse in Bayern sollten den etablierten Parteien in Deutschland eher eine Warnung und eine Lehre sein: Der Versuch, Rechtspopulisten durch die Übernahme ihrer Positionen auszuhebeln, scheitert, weil man die rechte Flanke nicht schließt, indem man ihr hinterherläuft. Alte Politikerweisheit:
Bei solch‘ durchschaubaren Manövern wählen die Leute das Original und nicht die Kopie. Seehofer muss diesen Fehler jetzt ausbaden.
Nochmals zu Nordrhein-Westfalen:
Ein Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge wurde als „kein antisemitischer Akt“ eingeordnet. Dies entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf zu Beginn dieses Jahres. In dem rechtskräftigen Urteil befand das Gericht, dass der Angriff auf das jüdische Gebetshaus während des Gaza-Krieges 2014 politisch motiviert gewesen und als Kritik an Israel zu werten sei. Der Angriff könne deshalb nicht als Antisemitismus bezeichnet werden.
Wenn das Urteil nicht so gefährlich wäre, sondern einfach nur schrecklich dumm genannt werden dürfte, könnte man es als Einzelfall betrachten. Es passt aber in das sich verändernde politische Klima in Deutschland und Europa, das sich eindeutig und nachhaltig nach rechts verschiebt. Die Richter des OLG Düsseldorf sehen keinen Zusammenhang mit Antisemitismus, gerade so, als hätten in Deutschland noch nie Synagogen gebrannt, als seien die brennenden Synagogen 1938 nicht der Auftakt zur Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa gewesen?
„Die Idee, ein Angriff auf eine Synagoge sei als anti-israelischer politischer Protest zu rechtfertigen und nicht auch als antijüdische Hasstat einzuordnen, ist so absurd wie die Behauptung, die Reichskristallnacht der Nazis sei ein Protest gegen den schlechten Service jüdischer Ladenbesitzer gewesen“, kommentierte daraufhin ein amerikanischer Wissenschaftler.
Man möchte lächeln, aber angesichts dieser gesellschaftspolitischen Ignoranz des Gerichts bleibt einem das Lächeln im Halse stecken.
Diese schwer erträglichen Verharmlosungen antisemitischer Gewalt und erinnerungskultureller Verantwortungslosigkeit sind Ausdruck mangelnder Sensibilität für die unterschiedlichen Facetten und Auswüchse des aktuellen Antisemitismus in Deutschland. Die Richter und auch die meisten Journalisten äußern selbst keinen Hass, aber sie demonstrieren ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Gefahren, den realen Bedrohungen, Angriffen und Anschlägen, die Juden in Deutschland wieder erleben. „Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit“, so Eli Wiesel, unter dessen Motto unsere heutige Veranstaltung steht.
Spätestens mit dem Einzug der AfD in den Bundestag scheint es einen sogenannten Normalisierungsprozess zu geben. Die AfD wird als eine vielleicht ungeliebte, aber nun einmal im politischen Establishment angekommene, und damit anerkennenswerte Partei behandelt. Losgelöst von ihren völkischen Äußerungen und Hasstiraden in ihrem Parteiprogramm werden AfD-Mitglieder zunehmend als „ganz normale Abgeordnete“ wie die der demokratischen Parteien präsentiert. So hieß es am 24. Oktober auf WDR 5: „Mit der AfD zieht erstmals eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag ein. Wie wird das die Debatten und die Politik verändern? Um das zu erfahren, begleiten wir in den nächsten Monaten zwei Abgeordnete.“ Und dann wurde ein AfD-Abgeordneter als Bundesvorsitzender der Arbeitnehmervereinigung der AfD und als „dem linken Flügel zugehörig“ präsentiert, weil er den Mindestlohn akzeptiert. Dieser Mann verwies im Gespräch mit dem WDR darauf, dass ihn Journalisten bereits als den ‚Norbert Blüm der AfD‘ bezeichnet hätten.
„Arbeitnehmervereinigung“, „Mindestlohn“, „Norbert Blüm“ – all das sind respektable Bezüge und die Rede vom „linken Flügel“ verschiebt alle angemessenen Kategorien. Die AfD erscheint als eine wertkonservative, sozial ausgerichtete, eben ganz normale Partei.
Ist das nun Ahnungs- oder Hilflosigkeit oder ist es falsch verstandene Liberalität, der Einsatz für Meinungsfreiheit? Wir müssen völkische Äußerungen weniger geschmeidiger AfD-Vertreter, wir müssen die Hasstiraden, die antisemitischen und rassistischen Provokationen eines Gauland, Höcke oder Gedeon aushalten, die oft bewusst knapp am Vorwurf der Volksverhetzung vorbeischrammen. Aber solche Positionen in einer Demokratie auszuhalten und ihnen nach Möglichkeit zugleich entschieden entgegenzutreten ist etwas anderes, als ihnen in den Medien derartig viel Platz einzuräumen.
Ich möchte keine pauschale Medienschelte betreiben, aber dem Eindruck von Normalität unter dem alles legitimierenden Gesichtspunkt der demokratischen Meinungsvielfalt und des relativierenden Begriffs der Ausgewogenheit gilt es, hart und kompromisslos öffentlich immer wieder entgegenzutreten.
In Deutschland ist es auch 79 Jahre nach der Reichspogromnacht nicht „normal“, im geschützten Raum der Demokratie ausländerfeindliche, rassistische und damit letztlich antidemokratische Inhalte zu verbreiten. Es darf nicht normal sein, denn man schändet durch derartiges Verhalten das Andenken an die Opfer. Und man öffnet naiv oder bewusst, formal oder aus Gleichgültigkeit denen Tür und Tor, die die mühsam erkämpften Werte unserer offenen und toleranten Gesellschaft mit Füßen treten.
Wenn aus der Geschichte etwas zu lernen ist, dann das Wissen um die Notwendigkeit eines frühzeitigen und entschiedenen Entgegentretens gegen menschenverachtende Positionen. Ein solches Engagement wäre das Gegenteil von der Gleichgültigkeit, die Elie Wiesel so eindrücklich problematisierte.
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