Köln, 8. November 2018
Rede von Professor Jürgen Wilhelm zum Gedenken an das Novemberpogrom
Es gilt das Gesprochene Wort
Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um an die Reichspogromnacht zu erinnern, die sich morgen, am 9. November, zum 80. Mal jährt. Man spricht in solchen Zusammenhängen davon, dass sich etwas ereignet habe. Doch Gewalt ereignet sich nicht. Sie wird ausgeübt, von Menschen gegenüber anderen Menschen ausgeübt.
Die Menschen in den Konzentrationslagern sind auch nicht einfach „umgekommen“, wie bis heute häufig gesagt und geschrieben wird, nein, sie wurden systematisch ermordet. Ohne einer sinnentleerten und inflationären political correctness das Wort reden zu wollen, ist Sprache jedoch immer auch Ausdruck einer Geisteshaltung und da gibt es am bestialischen Täterwillen des deutschen Volkes während der Nazizeit keinerlei Zweifel.
Denn nichts damals geschah ohne Absicht.
Alles war langfristig geplant: die Diktatur, der Polizeistaat, die Entmachtung der Gerichte, der Krieg, die Vernichtung der Juden, die Tötung von behinderten und kranken Menschen, die Tötung von Kommunisten, Sozialdemokraten, Sinti und Roma, Homosexuellen. Alles wurde strategisch von Nazipolitikern und Ministerialbürokratie in Berlin erdacht und von Bürgermeistern, SA-Schlägertrupps, Polizei, Wehrmacht, SS und Soldaten von europäischen Armeen bis hin zum Wachmann im KZ jeden schrecklichen Tag bis zur Befreiung durch die Russen und Amerikaner mit schrecklich deutscher Gründlichkeit umgesetzt.
Die Reichspogromnacht markierte nicht den Beginn einer antisemitischen Politik, die schon Jahre zuvor vor allem in Form antisemitischer Gesetzgebung begonnen hatte, wohl aber den Auftakt zur systematischen Judenvernichtung, die in der Ermordung von etwa sechs Millionen jüdischer Menschen in ganz Europa gipfelte.
Wenn über diesen Tag gesprochen wird, so gerät dabei mitunter in Vergessenheit, dass in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die antisemitische Gewalt zwar besonders verbreitet war, aber keineswegs nach dieser einen Nacht endete, was schon schrecklich genug gewesen wäre. In Österreich etwa begannen die Verfolgungen überhaupt erst am 10. November, und an manchen Orten Deutschlands fanden noch bis zum 13. November antisemitische Ausschreitungen in aller Öffentlichkeit statt. Insgesamt wurden in diesen Tagen mehr als 400 Menschen getötet oder in den Suizid getrieben. Etwa 30 000 Juden wurden direkt in Konzentrationslager verbracht. Mit der Zerstörung von über 1.400 Synagogen, jüdischen Geschäften, anderen Einrichtungen und Friedhöfen war innerhalb weniger Tage das gesamte öffentliche jüdische Leben verunmöglicht worden. Es sollte nicht mehr sichtbar sein, ähnlich wie die einzelnen jüdischen Menschen in den Konzentrationslagern nur noch Nummern und keine Menschen mehr sein sollten.
Aber Menschen, das waren sie immer und sind es auch bis in den Tod hinein geblieben. Menschen mit individuellen Geschichten, Träumen, Leidenschaften, Ansichten, sogar viele, die ihren Glauben, in den Sie hineingeboren wurden, nicht mehr aktiv lebten und die meisten, in Deutschland zumal, aktive und voll integrierte, ja zum Großteil assimilierte Bürger des Deutschen Reiches waren. All’ das wurde vor aller Augen und Ohren der deutschen Bevölkerung zerstört, vernichtet, und niemand will etwas bemerkt oder nach 1945 etwas gewusst haben. Dabei war die Symbolhaftigkeit dieser Nacht offensichtlich und von den Nazis bewusst in Szene gesetzt. Es war der Beginn der widerwärtigsten und verlogensten Diskriminierung, Zerstörung, des Raubes und der Enteignung, vor allem jedoch der Tötungen von Menschen in der Geschichte dieses Planeten durch die Gattung Mensch.
Einer dieser hoffnungsvollen und zunächst fröhlich in die Zukunft schauenden Menschen war die Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger, von der ich die folgenden Zeilen vorlesen möchte:
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein…
Dies schrieb sie mit 16 Jahren. Selma Meerbaum-Eisinger starb mit 18 Jahren am 16.12.1942 in einem deutschen Arbeitslager in der Ukraine an Typhus. Das Gedicht, das ich Ihnen vorgelesen habe, gelangte auf abenteuerlichem Weg gemeinsam mit einigen weiteren Gedichten zu ihrem einstigen Klassenlehrer nach Israel, der sie im Jahr 1976 als Buch herausgab.
Den Ermordeten zu gedenken heißt, zumindest das Wenige zu tun, das wir für sie zu tun noch in der Lage sind. Zu diesem Wenigen gehört, dass wir uns ihnen verpflichtet fühlen im Gedenken und in der Erinnerung, vor allem aber im Kampf gegen den offenbar unausrottbaren und scheinbar nie enden wollenden Antisemitismus.
Als vor wenigen Tagen der Täter in den USA vor und in der Synagoge das Feuer eröffnete, rief er: „Alle Juden müssen sterben.“ Es handelt sich dabei um den wohl erschütterndsten antisemitischen Angriff der letzten Jahre, mitten im Gebetshaus der jüdischen Gemeinde.
Der einzige war es nicht. Erinnert sei an die Anschläge auf eine jüdische Schule in Toulouse im Jahr 2012, den Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im Jahr 2014 sowie den Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Paris im Jahr 2015 mit jeweils vielen Toten. Erinnert sei darüber hinaus an den Anschlag auf eine Synagoge im tunesischen Djerba und auf das jüdische Gemeindehaus in Buenos Aires.
Wir haben es mit einem weltweiten, einem globalisierten Antisemitismus zu tun, aber aufgrund der von deutschem Boden ausgegangenen Judenvernichtung sind wir auch innerhalb Europas zu ganz besonderer Wachsamkeit verpflichtet.
Viele der Anschläge, die ich genannt habe, waren islamistisch motiviert, ausgeübt von Terroristen unterschiedlicher Herkunft, vermeintlich im Namen ihrer islamischen Religion. Weltliche und religiöse Vertreter des Islam widersprechen dem zwar, aber sie tun es in der übergroßen Mehrheit noch viel zu wenig, zu leise, und viele empfinden offenbar trotz der Ablehnung des Terrorismus eine Art Solidarität mit allen Moslems, die alles überragt. Dies aber ist eine falsch verstandene Solidarität, die eher ermutigt als dass sie entmutigt, die eher verharmlost als dass sie anklagt und mit Herz und Verstand verurteilt.
Sicher, ich habe es oft gesagt und wiederhole es auch heute, um Missinterpretationen keinen Raum zu geben, der Antisemitismus ist keineswegs nur deshalb gestiegen und führt bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, weil es aufgrund der Flüchtlinge mehr Moslems in Europa gibt. Zwar ist die antiisralische Haltung dort stark ausgeprägt, doch das Problem ist vielschichtiger.
Es gibt bis tief in die Gesellschaft hinein auch einen gewaltbereiten Antisemitismus – und der jüngste Anschlag in den USA ist dafür ein Beispiel – der sich aus anderen Motiven speist und eng mit einem zu beobachtenden Rechtsruck, ja wie in Italien und Teilen Spaniens sogar bis zu einem Neofaschismus der westlichen Gesellschaften zusammenhängt. Denken wir etwa an den Angriff auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz im Zuge der Neonazi-Aufmärsche im August zurück.
Oder denken wir an den billigen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus der AfD, die mittlerweile in allen deutschen Länderparlamenten vertreten ist und in der Bevölkerung mit einer Zustimmung auf bis 20% oder gar mehr rechnen kann.
Wir haben es hier nicht nur mit großmäuligen Politanfängern zu tun, sondern mit gefährlichen, strategisch vorgehenden Populisten, die antisemitische Stereotype zwischen den Zeilen andeuten, aber alle wissen, was gemeint ist. Die AfD ist in weiten Teilen, bis hin zu hohen Funktionären, eine antisemitische Partei, auch wenn sie durch ihre hasserfüllte ausländerfeindliche Politik und ihre Aggressivität gegen den Islam das Gegenteil insinuiert.
Wir müssen zudem konstatieren, dass der Antisemitismus unter der europäischen Bevölkerung eine gewisse Basis hat, dass also ein offenbar größer werdender Teil der Bevölkerung antisemitischen Aussagen zustimmt und antisemitischen Gewalttaten, wie es sie zahlreich jedes Jahr gibt, damit den Boden bereiten oder sie sogar billigt.
Was ist dagegen zu tun?
Es gibt nur eine Antwort: Aufstehen, sich öffentlich dagegen stemmen, widersprechen, demonstrieren, der AfD und anderen Rechten nichts durchgehen lassen. In Parlamenten und auf der Straße, in Schulen und Universitäten, bei öffentlichen Debatten und im privaten Kreis: immer wieder dagegen halten.
Zusätzlich bedarf es einer langfristig angelegten politischen Bildungsarbeit, die auf eine demokratische und pluralistische Gesellschaft abzielt, in der Offenheit, Freiheit des Andersdenkenden, aber auch Solidarität das anzustrebende Verhaltensmuster sein muss. Und nicht Ablehnung, Ausgrenzung, Angstschüren und Rassismus eine Rolle spielen. Eine Gesellschaft, in der Antisemitismus keinen Platz mehr hat!
Wir alle wissen, wie schwer das ist und dass man mit Rückschlagen rechnen muss, aber es gibt zum offenen Visier keine Alternative.
Nach langem Zaudern und Abwiegeln hat zwischenzeitlich die Politik in Berlin und Düsseldorf reagiert. Bundes- und Landesprojekte zur Unterstützung einer Bildungsarbeit wie etwa Demokratie leben sind ebenso Schritte in die richtige Richtung wie die Berufung von Antisemitismusbeauftragten.
Allerdings mahlen die Mühlen der Bürokratie sehr langsam, und die Wege sind weit und steinig. Während allein eine sichere Finanzierung es Bildungsprojekten ermöglicht, sich ganz auf ihre wichtige Arbeit zu konzentrieren, ist vielen in diesem Bereich Tätigen noch nicht einmal klar, ob sie im nächsten Jahr noch die nötigen Gelder erhalten werden, um weiterarbeiten zu können. Dies ist kein vertretbarer Zustand.
Eine Regierung, die Milliarden freigibt für Rüstungsprojekte in Spannungsgebiete, etwa nach Saudi Arabien, die Milliarden für eine ökologiefeindliche Landwirtschaft bereitstellt, die uns gesundheitlich alle beeinträchtigt und krank macht, eine solche Regierung, und damit meine ich keineswegs nur die zur Zeit amtierende, darf ihre Augen nicht vor dem gesellschaftlichen Problem Nummer eins, dem wachsenden Rassismus und Antisemitismus verschließen; das wenige Geld, das im Vergleich zu anderen Aufgaben hier benötigt wird, ist in den Schulen und Universitäten bestens angelegt: eine wirklich nachhaltige Investition in die Köpfe und Herzen der jungen Menschen.
Wir gedenken heute, 80 Jahre danach, der Opfer der Novemberverbrechen der Nazis an den Juden Deutschlands und ganz Europas. Wir gedenken der sechs Millionen jüdischer Menschen, die wie Selma Meerbaum-Eisinger nur atmen und frei sein wollten, und doch sterben mussten. Wir gedenken allen Opfern der nationalsozialistischen Barbarei.
Sie sind uns Mahnung und Verpflichtung, in unserer freien Gesellschaft mit aller Entschiedenheit das zu tun, was wir gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit zu tun imstande sind. Und das ist nicht wenig.