In diesem Jahr jährt sich das Novemberpogrom zum 76. Mal, es ist also kein rundes Erinnerungsdatum. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass die Medienresonanz im Vergleich zu den vorherigen Jahren nicht noch weiter abnehmen wird. Denn, was sich in diesem Sommer auf deutschen Straßen, aber auch in der medialen Öffentlichkeit abgespielt hat, darf nicht dazu führen, so schnell wieder zum aktuellen Tagesgeschäft zurückzukehren. Die jüngste Welle antisemitischer Offenbarungen in Deutschland im Juli und August diesen Jahres, nach Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, ein „Alptraumsommer“, in dem es wieder möglich war, dass der Mob „Scheiß Juden“, „wir kriegen euch“, „Israel vergasen“ und anderes Unappetitliche mehr grölen konnte, hat zu einer neuen Dimension des Judenhasses geführt. Wenn es vorher noch einigen nicht bewusst war, so ist doch spätestens nach diesen Vorfällen deutlich, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der einseitigen Stigmatisierung Israels und antisemitischen Ressentiments gibt. Konkret vollzog sich dieser Zusammenhang in Essen, wo mehrere 100 Gaza-Solidaritäts-Demonstrationsteilnehmer ausbrechen, zur Alten Synagoge ziehen und diese stürmen wollten.
So wundert es nicht, wenn jüdische Einrichtungen gegenwärtig mehr an eine Festung als an eine religiöse oder kulturelle Einrichtung erinnern. Diese Entwicklung geht auch nicht spurlos an den Gemeindemitgliedern vorbei. Eine enorme Verunsicherung kann bei Juden und Jüdinnen in Deutschland konstatiert werden. Exemplarisch kann diese Aussage von Gabriel Goldberg, dem früheren Jugendreferent der jüdischen Gemeinden in Nordrhein, wiedergegeben werden, der auf einer Kundgebung hier in Köln im August sagte:
„Im Juli habe ich drei Solidaritätskundgebungen in Düsseldorf organisiert – ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, die jüdischen potentiellen Teilnehmer zu beruhigen.“ „Ja, Polizei wird ausreichend vorhanden sein, ja auch die Gemeinde wird sich an der Sicherheit beteiligen, ja, ich habe die örtliche Polizei von den zurückliegenden gewaltsamen Übergriffen in Kenntnis gesetzt. Viele sind nicht gekommen – aus Angst. Kinder waren nicht anwesend – aus Angst um sie. Wollen wir in einem Land leben, in dem wir unsere Identität verbergen, unsere politischen Ansichten verheimlichen, uns selbst negieren müssen? (….). Geht Antisemitismus nur die Juden an, ist es unser Problem? Unsere Angst? Unsere Sorge?“
Goldberg problematisiert in seiner Aussage zwei Aspekte: Einerseits herrscht innerhalb der Mitglieder der Synagogen-Gemeinden eine große Verunsicherung vor, so dass viele Menschen jüdischen Glaubens Angst haben, ihre Religion offen auszuüben. Dass dies 76 Jahre nach der Reichspogromnacht und knapp 70 Jahre nach Zerschlagung des Faschismus wieder Realität in Deutschland geworden ist, ist ein Skandal und darf nicht hingenommen werden. Wir müssen uns weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass jüdisches Leben offen und ohne Angst im Alltag ausgeübt werden kann.
Anderseits spricht Goldberg den Zusammenhang vom Anwachsen des Antisemitismus und der demokratischen Verfasstheit in Deutschland an, die sicherlich auch Auswirkungen auf die Mehrheitsgesellschaft hat. Natürlich ist es richtig, dass mit dem zunehmenden Antisemitismus auch demokratische Errungenschaften in Frage gestellt werden und einer grundsätzlich liberalen Verfassung diametral gegenüberstehen. Dass mittlerweile in der wissenschaftlichen und in der öffentlichen Debatte auch von einen „demokratischen Antisemitismus“ ohne Anführungszeichen gesprochen wird, spricht Bände und darf nicht hingenommen werden. Ich habe es schon einmal im Sommer gesagt, aber ich wiederhole es, weil für die Bekämpfung des Antisemitismus ganz zentral ist: Antisemitismus funktioniert ohne jüdisches Handeln. Antisemitismus ist nämlich nicht das Wahngebäude von ein paar Verrückten, leicht Identifizierbaren. Der Antisemitismus ist auch kein Problem der Juden, keine Einstellung, die sich aus der jüdischen Geschichte, aus der jüdischen Religion erklären ließe; vielmehr ist der Antisemitismus ist ein Problem unserer Mehrheitsgesellschaft.
Auch wenn der Antisemitismus in diesem Sommer neue Ausmaße erlangt hat, so konnte doch schon vor drei Jahren mit dem Bericht der vom Innenministerium eingesetzten Expertenkommission nachgelesen werden, dass judenfeindliche Äußerungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen. Leider verschwand der Bericht schnell wieder in der Schublade, wo er bis heute sein Dasein fristet. Ohne den islamistischen Antisemitismus kleinzureden, wie er in diesem Sommer auf den Straßen in Deutschland zum Vorschein kam, so muss doch konstatiert werden, dass es auch jenseits migrantischer Milieus in der Mehrheitsgesellschaft einen weit ausgeprägten Antisemitismus gibt, so dass in der Wissenschaft mittlerweile auch von einem „Alltagsantisemitismus“ gesprochen wird. Monika Schwartz-Friesel und Jehuda Reinharz haben in ihrem viel beachteten Buch „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ mehr als 14.000 E-Mails, Briefe, Postkarten und Faxe, die zwischen 2002-2012 an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin aus ganz Deutschland versendet wurden, ausgewertet. Über 70 % der Zuschriften haben einen eindeutigen antisemitischen Inhalt. Interessant ist jedoch vor allem die Zuordnung der politischen und sozialen Milieus. Insgesamt vier Prozent der Zuschriften können dem extrem Rechten und Linken Spektrum sowie ein weiterer kleiner Teil Menschen mit muslimischen Hintergrund zugeordnet werden. Die absolute Mehrheit entstammt der Mitte bzw. sogar der Elite unserer Gesellschaft. So wird auch hier noch einmal die Legende widerlegt, nur an den Rändern unserer Gesellschaft finde sich Antisemitismus wieder. Die beleidigenden Schriften, die früher anonym versendet wurden, sind heute mit vollem Absender und ab und an auch mit einem Doktortitel versehen.
Auch der gewalttätige Antisemitismus bricht sich wieder in aller Öffentlichkeit bahn – so vor kurzem auf dem Kölner Hauptbahnhof. Am letzten Samstag suchte ein amerikanischer Tourist nach dem richtigen Bahnsteig für seinen Zug. Er sprach ein Gruppe Jugendlicher an und fragte nach dem entsprechenden Gleis. Ohne auf seine Frage einzugehen, gingen Sie auf den Mann los, stießen ihn zu Boden und durchsuchten seine Kleidung, wobei Sie einen Davidstern an einer Halskette entdeckten. Sie stießen ihn zu Boden und schrien ihn mit „jüdischer Bastard“ an. Anschließend flüchteten die Opfer mit Geldbörse und Reisedokumenten ihres Opfers. Übrigens: Die Täter waren kahlrasiert und trugen schwarz-weiss-rote T-Shirts.
Trotz dieser bedrohlichen Situation muss und kann auch auf positive Entwicklungen verwiesen werden, denn die Kölnische Gesellschaft hat in den letzten Jahren ihr Angebot für Jugendliche und junge Erwachsene mit zahlreichen Projekten – gemeinsam mit der Bethe-Stiftung, Aktion Mensch und dem Programm des Bildungsministeriums Künste öffnen Welten – enorm ausgebaut, in denen wir uns mit der gegenwärtigen Erinnerungskultur, den Facetten des Antisemitismus und Zivilcourage auseinandersetzen. Aber auch die heutige Veranstaltung, die wir seit vielen Jahren in enger Kooperation mit der Synagogen-Gemeinde durchführen. So ist ein wichtiger Aspekt unserer Gedenkkultur in Köln. Hoffnung macht diese Veranstaltung auch deshalb, weil wir gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen darüber nachdenken, wie aus der Geschichte zu lernen ist.
Vor allem freue ich mich, dass zum ersten Mal Schüler der Lauder-Morijah-Grundschule im jüdischen Wohlfahrtszentrum in Köln und der Peter-Petersen-Grundschule gemeinsam etwas eingeübt haben, das wir gleich hören und sehen werden. Lassen Sie uns also auch in Zukunft für eine Gesellschaft streiten, in der es ganz normal ist, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene unterschiedlicher Religions- und Ethnienzugehörigkeit zusammen spielen, leben und unsere Gesellschaft gemeinsam gestalten. Es gilt immer noch die Utopie, die Adorno vor dem Hintergrund der Shoa vor mehr als 50 Jahren beschwor, eine Gesellschaft zu gestalten, in der man „ohne Angst verschieden“ sein kann.