Vergangenen Montag Abend war der Vorsitzende der Kölnischen Gesellschaft, Prof. Dr. Wilhelm, zu Gast bei „Köln, wir müssen reden”, einem vom Landtagsabgeordneten Jochen Ott und der SPD Nippes veranstaltetem Kneipentalk.
Thema des Vortrags von Prof. Dr. Wilhelm war: „Das gesellschaftliche Echo zum Antisemitismus – Wie gefährdet ist jüdisches Leben in Deutschland?“. In diesem ist er unter anderem auf die Bedeutung von Antisemitismus und seinen aktuellen Erscheinungsformen eingegangen und hat insbesondere Bezug zum irsaelbezogenen und sekundären Antisemitismus genommen.
Die Rede im Wortlaut
„Sehr geehrte Damen und Herren,
vorab möchte ich meine Freude kundtun, hierher eingeladen worden zu sein und heute Abend mit Ihnen über das Thema Antisemitismus sprechen zu dürfen. Als Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit stehe ich einem Verein vor, der alltäglich mit verschiedenen Formen des Antisemitismus konfrontiert ist und ihm entgegenarbeitet.
Es bietet sich an, zunächst darüber zu reden, was wir überhaupt unter Antisemitismus verstehen, damit wir eine gemeinsame Gesprächsgrundlage haben. Historisch hat sich der moderne Antisemitismus aus dem christlichen Antijudaismus heraus entwickelt, wobei er ab dem 19. Jahrhundert im Zuge der aufkommenden Rassetheorien immer weniger religiös und immer mehr rassistisch begründet wurde. Der Unterschied zum Rassismus besteht beim modernen Antisemitismus allerdings darin, dass der Rassismus die anderen als unterlegen ansieht, der Antisemitismus hingegen Jüdinnen und Juden als vermeintlich übermächtige fürchtet und umso verbissener und brutaler bekämpft bis hin zum Versuch totaler Auslöschung im Nationalsozialismus.
Wir alle kennen verschiedene Stereotype, wie Juden seien oder was sie täten. So wird Juden unterstellt, besonders geldgierig und hinterlistig zu sein. Ihnen wird sogar die Macht angedichtet, das gesamte Weltgeschehen kontrollieren zu können. Wir kennen auch verschiedene antisemitische Karikaturen, mindestens solche, die in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden sind und etwa Juden mit übergroßen Nasen zeigen oder Juden als Kraken darstellen, die den gesamten Erdball umschlingen. Solche Bildsprache gibt es auch noch heute, jedoch wird der Antisemitismus in der Gegenwart meist ein wenig verklausulierter ausgedrückt. Natürlich gibt es zum Beispiel Neonazis, die bei geheimen Konzerten sehr offen ihren Antisemitismus ausleben. Wir kennen auch die Bilder von propalästinensischen Jugendlichen, die in Anbetracht israelsolidarischer Kundgebungen den Hitlergruß zeigen oder „Juden ins Gas“ brüllen. Aber repräsentativ für die Gesamtgesellschaft ist das nicht. Während es im Nationalsozialismus üblich war, dass Leute auf ihren Antisemitismus mehr als stolz waren und ihn ohne Bedenken öffentlich artikulierten, möchten heute nur noch wenige öffentlich als Antisemiten gelten. Nur heißt das eben nicht, dass heute auch niemand mehr Antisemit ist. Und wir sollten auch nicht den Fehler machen, den Antisemitismus nur an den Rändern der Gesellschaft zu suchen. Wir finden ihn in allen gesellschaftlichen Schichten, beim Arbeitslosen ebenso wie beim Universitätsprofessor, und in allen politischen Spektren, in der Sozialdemokratie ebenso wie bei überzeugten Konservativen. Nur ist der Antisemitismus häufig schwer zu erkennen, weil er nach 1945, nach der militärischen Niederlage Deutschlands, seine Erscheinungsformen verändert hat. Auch darüber möchte ich heute sprechen.
Zunächst lassen Sie mich aber noch einige Worte zum alltäglichen Antisemitismus in Deutschland sagen. Sie kennen die Bilder von Synagogen, die rund um die Uhr unter Polizeischutz stehen, und sind sicherlich schon selbst an einer vorbei gegangen. Dass der Polizeischutz notwendig ist, zeigen immer wieder Angriffe auf Synagogen sowie Jüdinnen und Juden. Besonders eindrücklich ist mir der Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal im Jahr 2014 im Gedächtnis geblieben – auch deshalb, weil das Oberlandesgericht Düsseldorf beim anschließenden Prozess keinen antisemitischen Akt darin erkennen konnte, Molotow-Cocktails auf ein jüdisches Gebetshaus zu werfen. Stattdessen befand das Gericht, der Angriff während des Gaza-Krieges 2014 sei politisch motiviert gewesen und als Kritik an Israel zu werten. Wenn das Urteil nicht so gefährlich wäre, sondern einfach nur schrecklich dumm genannt werden dürfte, könnte man es als Einzelfall betrachten. Es passt aber in das sich verändernde politische Klima in Deutschland und Europa, das sich eindeutig und nachhaltig nach rechts verschiebt. Die Richter des OLG Düsseldorf sahen keinen Zusammenhang mit Antisemitismus, gerade so, als hätten in Deutschland noch nie Synagogen gebrannt, als seien die brennenden Synagogen 1938 nicht der Auftakt zur Vernichtung fast des gesamten jüdischen Lebens in Europa gewesen. „Die Idee, ein Angriff auf eine Synagoge sei als anti-israelischer politischer Protest zu rechtfertigen und nicht auch als antijüdische Hasstat einzuordnen, ist so absurd wie die Behauptung, die Reichskristallnacht der Nazis sei ein Protest gegen den schlechten Service jüdischer Ladenbesitzer gewesen“, kommentierte damals ein amerikanischer Wissenschaftler.
Die Frage, wo die Kritik an Israel beginnt antisemitisch zu sein, die das Oberlandesgericht auf so beschämende Weise beantwortet hat, wird immer wieder gestellt und scheint insofern von einem großen gesellschaftlichen Interesse zu sein, weshalb auch ich ein paar Sätze dazu sagen möchte.
Grundsätzlich ist keine Regierung auf dieser Welt unfehlbar, auch die israelische nicht. Aber Kritik am jüdischen Staat ist sicher dann antisemitisch, wenn sie Israel als “Jude unter den Staaten” dämonisiert oder den Staat und sein Handeln pauschal delegitimiert. Antisemitisch ist, wenn die israelische Politik mit Nazimethoden gleichgesetzt wird und wenn man die Juden kollektiv für israelische Politik der jeweiligen Regierung haftbar macht. Ein geeignetes Beispiel hierfür stellte jahrelang die Kölner Klagemauer am Kölner Dom dar.
Es macht nämlich einen gewaltigen Unterschied, politische Entscheidungen, Fehlverhalten oder gar Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren oder Israel mit alten antisemitischen Stereotypen als Ganzes anzugreifen. Und es ist doch zudem auch erstaunlich, wie sehr dieses kleine Land, das in etwa so groß ist wie das Bundesland Hessen, das weltweite Interesse es zu kritisieren auf sich zieht. Das Wort „Israelkritik“, das wir alle kennen, ist in dieser Form einmalig. Es gibt weder eine „Türkeikritik“ noch eine „Nordkoreakritik“ oder eine „Irankritik“, obgleich es in all diesen Ländern um die Menschenrechte ihrer Bewohnerinnen und Bewohner deutlich schlechter gestellt ist als in Israel. Überhaupt ist Israel mit seinen demokratischen Strukturen, seiner Achtung von Frauenrechten und der Rechte von Minderheiten wie Homosexuellen um ein Vielfaches fortschrittlicher als jedes seiner Nachbarländer, was keineswegs heißt, es sei perfekt oder es gäbe in Israel keine Diskriminierung. Die gibt es auch in Israel, ähnlich wie es sie in Deutschland oder Italien gibt, aber sie erklärt uns eben nicht, weshalb das Bedürfnis Israel zu kritisieren, offenbar derartig groß ist, dass dafür eigens ein eigener Begriff gefunden werden musste, eben der der „Israelkritik“. Viele sogenannte „Israelkritiker“ in Deutschland behaupten von sich, sie brächen angesichts einer auf alles niedersausenden Auschwitzkeule mutig ein Tabu; sie sagten ja nur ihre Meinung und dies müsse man doch wohl dürfen – als würde Israel nicht in jeder Talkshow ausgiebig kritisiert, die das Thema Nahostkonflikt behandelt, als erschienen nicht jede Woche in den Zeitungen „israelkritische“ Artikel und als wären die Kommentarspalten im Internet nicht voller „israelkritischer“ Kommentare, sobald es um den jüdischen Staat geht. Die Behauptung, man dürfe Israel nicht kritisieren, lässt sich nicht halten. Man darf und man tut es leidenschaftlich und permanent.
Um diesen Widerspruch zu verstehen, muss man verstehen, was wir „sekundären Antisemitismus“ nennen. Die israelische Psychoanalytiker Zwi Rex hat einmal gesagt: „Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!“ Was er damit meinte, war, dass die noch lebenden Jüdinnen und Juden sowie der jüdische Staat, schon indem sie existieren, an das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte erinnern, nämlich an die Massenvernichtung von etwa sechs Millionen Menschen, die meisten davon Jüdinnen und Juden, im Nationalsozialismus. Wir haben es mit einem unbewussten Schuldgefühl zu tun, das eine positive Bezugnahme auf den deutschen Nationalismus und seine Geschichte erschwert und daher abgewehrt werden muss. Was uns in der Folge häufig begegnet, ist etwa die sogenannte „Täter-Opfer-Umkehr“. Dabei wird Israel vorgeworfen, heute mit den Palästinensern genauso zu verfahren wie damals Nazideutschland mit den Juden. Regelmäßig kommt es in diesem Zusammenhang zu unangemessenen Vergleichen wie etwa dem, der Gazastreifen sei wie das Warschauer Ghetto. Mit den realen Verhältnissen vor Ort hat das nicht viel zu tun, zumal die offenen antisemitischen Vernichtungsdrohungen etwa der radikalislamischen Hamas regelmäßig völlig ausgeblendet werden. Wollte Israel die Palästinenser tatsächlich vernichten, wie ihm regelmäßig vorgeworfen wird, so hätte es längst die Mittel dazu. Es will nicht, mehr noch: Von keiner anderen Armee der Welt kennen wir zum Beispiel das Vorgehen, vor Bombenabwürfen auf militärische Ziele in Form von Flugblättern und Telefonanrufen die Zivilbevölkerung zu informieren, um so zivile Opfer zu vermeiden. Vernichtungspolitik sieht anders aus. Aber indem Jüdinnen und Juden vorgeworfen wird, im Grunde die neuen Nazis zu sein, bringt man sie als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zum Verschwinden und damit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft selbst, mit der man sich nicht länger befassen möchte, weil sie an die abgewehrte deutsche Schuld erinnert.
Verstehen Sie mich nicht falsch, auch die israelische Politik ist streitbar und wird auch in der israelischen Gesellschaft selbst leidenschaftlich diskutiert. Ich möchte nur auf die Unverhältnismäßigkeit hinweisen, mit der man mit Israel ins Gericht geht und die nicht verstanden werden kann, wenn man nicht den klassischen wie sekundären Antisemitismus versteht, der ihr zugrunde liegt.
Ähnlich wie die israelische Politik nur oberflächlich etwas mit dem israelbezogenen Antisemitismus zu tun hat, der viel mehr von den eigenen Projektionen geleitet wird als von den realen Verhältnissen vor Ort, hat auch der Antisemitismus insgesamt nichts zu tun mit dem Verhalten real existierende Jüdinnen und Juden. Dass die Juden selbst schuld seien an dem, was ihnen angetan wird, gehört viel mehr selbst schon immer zum Repertoire antisemitischer Aussagen. Tatsächlich hat es der Antisemitismus fertig gebracht, noch seine auffälligsten Widersprüche auszublenden. Dass in der nationalsozialistischen Propaganda Jüdinnen und Juden einerseits das Finanzkapital, andererseits aber auch den Bolschewismus verkörpern sollten, obgleich beides sich nun wirklich nicht verträgt, war nie Anlass für irgendeine Reflexion, sondern machte den Antisemitismus schlichtweg allumfassend insofern, als er jedes denkbare Verhalten von Jüdinnen und Juden als „typisch jüdisch“ begriff. So gibt es, um ein zweites Beispiel zu nennen, das Bild des potenten Juden, der deutsche Frauen verführe, als auch das Bild des impotenten Juden, der verweichlicht und darum verachtenswert sei. Was die realen Jüdinnen und Juden auch tun, der Antisemit wird sich bestätigt fühlen. Der Antisemitismus in diesem Sinne kein Vorurteil, das seine Widerlegung zuließe, sondern ein Ressentiment, das vor allem psychisch motiviert ist.
Ich habe Ihnen nun einiges zum Antisemitismus gesagt, über das sich natürlich noch viel ausführlicher sprechen ließe. In Anbetracht der begrenzten Zeit, die uns zur Verfügung steht, war es notwendig die Inhalte komprimiert vorzutragen und mich auf die Dinge zu beschränken, die mir am grundlegendsten scheinen, wenn wir über die heutigen Formen des Antisemitismus sprechen. Allerdings freue ich mich sehr auf das gleich folgende Gespräch mit Ihnen, das sicherlich den Raum für vertiefende Fragen oder Diskussionsbeiträge bieten wird und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.”