Rede von Prof. Dr. Jürgen Wilhelm anlässlich des Gedenkens an die Pogromnacht 1938 am 9.11.23,Synagoge Roonstraße, Köln

(english version below)

Es gilt das gesprochene Wort.

Die Reichspogromnacht war nicht der Beginn antisemitischer Hetze, Verfolgung und Ausgrenzung, diese begannen schon Jahre vorher; doch er stellte eine Zäsur dar. Juden in Deutschland mussten fortan um Leib und Leben fürchten, und sie konnten keinerlei Hilfe von staatlichen Institutionen oder der Zivilgesellschaft erwarten.

Wir wissen, dass das Gegenteil der Fall war: von der Entrechtung bis hin zur Vernichtung jüdischen Lebens war es nur noch ein kleiner Schritt. Dabei waren die Attacken am 9. November 1938 eine konzertierte Aktion aufgrund einer von Goebbels inszenierten Propaganda. Bevor nämlich die französische Polizei die Hintergründe des Attentats auf den Botschaftsmitarbeiter in Paris untersucht hatte, ließ Goebbels die Verschwörungstheorie verbreiten, der Täter Grynszpan habe im Auftrag des  Weltjudentums gehandelt, das das nationalsozialistische Deutschland vernichten wolle. Zu diesem Zweck arbeite es an einer Vergiftung der deutsch-französischen Beziehungen, um so einen Krieg zu provozieren. Am 7. November gab das Deutsche Nachrichtenbüro, eine zentrale Institution der Presselenkung, eine Anweisung heraus, die Meldung über das Attentat sei in allen Zeitungen „in größter Form herauszustellen“ und es sei „besonders darauf hinzuweisen, dass das Attentat die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben müsse“.

Der 7. Oktober 2023, an dem die Terroristen der Hamas auf israelisches Staatsgebiet eindrang, bedeutet eine Zäsur in der jüngeren jüdischen Geschichte. Auf den Schock über die gezielten Massenmorde und schrecklichen Geiselnahmen, folgte das Erschrecken angesichts der Empathielosigkeit von Nichtjuden in vielen Ländern der Welt, namentlich vieler Muslime, die die Taten der Terroristen bejubelten. Berlin Neukölln war nur der Anfang einer beispiellosen orchestrierten Aktion von Hamas-Befürwortern.

Zweifellos ist es ein Ausdruck menschlicher Nächstenliebe, Empathie mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu haben, die unter der Diktatur der Hamas leidet und von dem vermeintlich solidarischen Ägypten keinerlei Schutz erhält. Und man muss auch kein Freund der aktuellen israelischen Regierung und deren letztlich für Israel schädlichen Politik Netanjahus sein.

Doch dass es offenbar für viele in Deutschland Lebende nicht möglich ist, Mitgefühl mit den jüdischen Betroffenen und Hinterbliebenen zu haben und ohne Relativierung – also ohne Wenn und Aber – nach einem solchen terroristischen Überfall Solidarität mit den Menschen in Israel zu zeigen – das macht mich beinahe sprachlos.

Die von der Hamas und ihren Zujublern gezielt in Szene gesetzte Täter-Opfer-Umkehr ist durchschaubar und ekelhaft perfide, aber –  machen wir uns nichts vor – sie wirkt und wird von vielen Medien reproduziert.

Immer wieder finden sich gerade in Deutschland Viele, die die „Banalität des Bösen“ repräsentieren. Jene Bezeichnung von Hannah Arendt, die zwar bei Eichmann unangebracht war, denn sein Handeln war keineswegs banal, die aber doch auf viele, vor allem journalistische Zeitgenossen zutrifft, die meinen, uns den moralischen Kompass durch die Relativität einer vermeintlich „objektiven Berichterstattung“ vorhalten zu müssen.

Die historische Komponente und damit die besondere Verantwortung Deutschlands wird von Vielen übersehen oder zumindest nicht reflektiert! Denn die prekäre politische Situation im Nahen Osten ist eine unmittelbare Folge der Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen.  Zwar gab es die zionistische Bewegung schon weit vorher – der in Köln aktive Sozialdemokrat Moses Hess war einer ihrer Vordenker – doch erst angesichts der Horrorbilder aus den KZs und des ganzen Ausmaßes der Vernichtung wurde der Beschluss der UN-Generalversammlung am 29. November 1947 möglich, der zur Staatsgründung Israels führte. Deshalb ist die Existenz dieses jüdischen Staates für Deutschland Staatsraison und in dieser besonderen Weise für kein anderes Land auf der Welt.

Und deshalb ist es völlig inakzeptabel, dass es gerade hier bei uns in Deutschland hunderte von politischen Aktionen gibt, die sich geschichtslos brutal gegen Israel richten und die Morde der Hamas bejubeln.

In diesem Zusammenhang warten wir noch immer darauf, dass die wichtigste Moslemorganisation in Deutschland und in Köln die mit Ebi Lehrer und Nathanael Liminski unterzeichnete Erklärung in türkischer Sprache an ihre vielen tausend Mitglieder versendet. Es hilft nicht viel, wenn sich die Funktionäre treffen, das Vereinbarte aber nicht an ihre Mitglieder weitergegeben wird, weil es angesichts eines bevorstehenden Staatsbesuchs offenbar politisch nicht opportun erscheint.

Wegen des zunehmenden aggressiven Antisemitismus steht unsere heutige, gemeinsam von der Synagogengemeinde und der Christlich-Jüdischen Gesellschaft organisierte Gedenkveranstaltung richtigerweise unter dem Motto „Demokratie in Gefahr – never again is now!“.

Wir spüren alle, dass die Gefahr einer Entdemokratisierung im Nachkriegseuropa noch nie so groß war wie heute. Die Nazipartei AfD, wie sie Ministerpräsident Wüst zu Recht bezeichnet, hat erheblichen Zulauf und erschreckende Ergebnisse in Landtagswahlen erzielen können.

In Zeiten einer angespannten Wirtschaftslage und multipler Krisen sind Parteien und Personen besonders attraktiv, die vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten, obwohl sie in Wirklichkeit opportunistische Hirngespinste ohne konkrete Realisierungsmöglichkeit sind

Rechte und zunehmend auch linke Ideologie baut dabei auf faschistische Feindbilder: Migranten, Menschen mit Behinderung, Muslime, Juden werden als „das Fremde“ markiert, das vermeintliche traditionelle deutsche Werte – was immer das sein soll – bedrohe.

Dieses verlogene und im Übrigen auch wissenschaftlich unsinnige Vokabular kennen wir doch irgendwoher. Es wurde vor 85 Jahren hier vor der Synagoge in die Welt geschrien, bevor man die Scheiben zerschlug und das Gotteshaus durch Feuer zerstörte.

Was also ist zu tun?  Wie sieht ein Gegensteuern aus? Kann ich als Einzelner überhaupt etwas bewirken?

Die Antwort ist einfach und kompliziert zugleich:

Jeder Einzelne ist gefordert!

Denn wann immer der Einzelne die Verantwortung für das, was er tut oder lässt, auf andere abwälzt, wird dem Mitläufertum, dem Leugnen oder dem Wegschauen des Antisemitismus im Alltag, Tür und Tor geöffnet. Und glauben wir nicht, jemand anderes könne uns diese Verantwortung abnehmen.

Anders gesagt: nicht irgendwelche Institutionen oder Personen sind für das eigene Handeln verantwortlich; ich allein bin es, der sich einen moralischen Kompass zulegen muss. Kein anderer kann mir diese Verantwortung nehmen. Und dass man „von nichts gewusst habe“, diese Schutzbehauptung der Nachkriegszeit, entlastet heute niemanden mehr.

Das große Versprechen der offenen Gesellschaften ist ohne pluralistisch aufgeklärten ethischen Individualismus, ohne freie Willensbildung freier Bürger und ohne deren zivilgesellschaftliches Engagement nicht einzulösen.

Man würde es sich jedoch allzu leicht machen, sähe man das Problem allein in der Haltung muslimischer Migranten.  Schlimmstenfalls gießt man mit dieser vereinfachenden Bewertung Öl ins Feuer, reproduziert rassistische Stereotype und fördert ausländerfeindliches Denken und Handeln.

Zum anderen wird damit ein Schuldgefühl abgewälzt, die Verantwortung von sich geschoben. Das alles wollen wir natürlich nicht.  Deshalb sei der Finger in die Wunde eigenen gesellschaftlichen Handelns gelegt, das dem „Nie Wieder“ diametral entgegensteht.

Wenn beispielsweise Konzertbetreiber einen antisemitischen Hetzer und Geschichtsverdreher wie Roger Waters auf die Bühne lassen, oder wenn ein Hubert Aiwanger im Amt belassen wird, muss konstatiert werden, dass es mit dem Bekenntnis zur Solidarität mit Juden in Deutschland nicht weit her ist. Vor allem dann, wenn machtpolitische und ökonomische Interessen im Spiel sind.

Es schadet der Glaubwürdigkeit, von Muslimen ein Bekenntnis zu Israel einzufordern, wenn die deutsche Politik davor zurückschreckt, den Drahtzieher Iran mit Sanktionen zu belegen. Iran will vom Libanon und Jemen aus den Israelis einen Dreifrontenkrieg aufoktroyieren. So wie wir außer ein paar Lippenbekenntnissen keine Konsequenzen aus dem verbrecherischen Handeln des iranischen Regimes gegenüber seiner eigenen Bevölkerung, namentlich den mutigen Frauen, gezogen haben, so haben wir jahrelang weggeschaut, wenn es um die Frage geht, wohin deutsche und europäische Gelder fließen, die für die Verbesserung der Lebenssituation der palästinensischen Bevölkerung gedacht sind.

Es fällt nicht leicht, dies zu sagen, aber es steht zu befürchten, dass der Terror der Hamas auch von Europa und Deutschland mitfinanziert wurde.

Wir müssen indessen gar nicht so weit in den Osten blicken. Köln gilt zwar als Heimstätte der ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen und war der Ort, von dem ausgehend das Festjahr „2021 – jüdisches Leben in Deutschland“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Bundesgebiet zelebriert wurde. Doch auch hier, in unserer als tolerant und weltoffen geltenden Stadt, kommt es immer wieder zu antisemitischen Handlungen, von Stolperstein-Beschmierungen bis hin zu körperlichen Übergriffen auf Juden. Auch in Köln gab und gibt es Pro-Palästina-Kundgebungen, auf denen mit Parolen wie „from the river to the sea“ die Eliminierung des jüdischen Staats und seiner Bewohner herbeigewünscht wird.

Doch viele Engagierte in Köln und der Region setzen dem etwas entgegen:

wir haben in den vergangenen Wochen durch Kundgebungen, öffentliche Aufrufe, Ansprachen, Interviews, eindrucksvolle Schweigemärsche, wie gestern Abend, und andere Formen Solidarität mit Israel und Empathie gegenüber unseren jüdischen Freunden gezeigt und werden dies auch weiter tun. Auch die heutige Ausgabe des Kölner-Stadt-Anzeiger ist hierbei dankend zu erwähnen.

Wir halten es jedoch für besonders wichtig, präventiv zu handeln und junge Menschen für camouflierte Diskriminierungsformen zu sensibilisieren.

Wir wollen nicht nur auf judenfeindliche Aktionen reagieren, sondern handeln proaktiv, bieten Lehrkräften unsere Weiterbildungsangebote an, damit sie sich nicht mit diesen sensiblen Themen allein gelassen fühlen.

Trotz der gestrigen Ankündigungen in Düsseldorf warten wir allerdings seit langem darauf, dass die Landesregierung das Thema „Antisemitismus“ in das Curriculum der Sekundarstufe 2 als Pflichtthema aufnimmt. Wir warten übrigens gemeinsam mit der Antisemitismusbeauftragten des Landes darauf und hoffen sehr, dass dieses Thema nun mit Verve angegangen wird.

Denn insbesondere in Regionen und Stadtteilen mit hohem Migrationshintergrund, ist es dringend erforderlich, die jungen Menschen mit unseren Werten der Freiheit und Demokratie vertraut zu machen, und zu vermitteln, dass Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz hat.

Wie geht es nun weiter?

Es wird in den nächsten Tagen und Wochen schreckliche Bilder aus dem Gaza-Streifen geben.

Es wird sie geben, weil die Hamas will, dass es sie gibt. Sie nutzt die dortige Bevölkerung als menschlichen Schutzschild und stellt Israel vor ein unlösbares Dilemma: Den Terror entweder hinzunehmen, was keine Option sein kann oder zivile Opfer in Kauf zu nehmen, was wiederum die Hamas und ihre lautstarken Unterstützer weltweit politisch ausschlachten.

Es gilt also stark zu sein und unverrückbar an der Seite des Angegriffenen zu stehen.

Unser Mitgefühl gehört gleichwohl den Angehörigen aller Getöteten und zwar auf beiden Seiten des Krieges.

Unschuldige sind getötet worden und werden weiter getötet werden. Deshalb muss trotz der verständlichen Reaktion Israels am Ende ein friedliches Nebeneinander beider Völker das Ziel sein.

Zum Krieg reicht der Mut des anderen!

Zum Frieden gehört der eigene Mut!

Deshalb ist Frieden immer schwieriger als Krieg!

Lassen Sie uns in diesem Gotteshaus auf Frieden hoffen!

Dabei ist unsere Haltung ohne Wenn und Aber klar:

unsere uneingeschränkte Solidarität gehört dem Staat Israel und seinen Menschen und allen unseren jüdischen Schwestern und Brüdern in Köln, im Rheinland und in Deutschland!

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